13.04. - 14.05.
Aufsichtszeiten: jeden Mittwoch 17-19 Uhr
Steine
Seit mehreren Milliarden Jahren ist der Stein in einem Lehmmagma aus mehreren Konkretionen eingeschlossen, meistens mitten in einer Gangmasse, die seine erste Einbettung ist, aber auch gleichzeitig der erdrückende Schutz gegen einen künftigen Blick. Dort ruht er, bewegungslos. Und plötzlich bringen ihn klimatische Schwankungen, Abtragungen, unsichtbare Bewegungen, kantige Erdrisse oder irgendwelche Ausgrabungen zutage. Er taucht auf und zeigt seine Nase, neugierig auf eine Welt, die er nicht kennt oder nur von unten kennt. Es sieht so aus, als würde der Stein wachsen.
Man hätte es dabei belassen können : ihm einen Tritt geben, ihn wegwerfen, ihn ein Stück weiterschieben. Oder, vielleicht noch bedauerlicher, ihn gar nicht bemerken.
Olivier Thillaye will es dabei nicht belassen. Ich glaube, er sieht den Stein nachdenklich an.
So erfasst er ihn dann auch mit einem blossen Blick : seine Form, seine Farbe, seine Struktur sprechen ihn an. In diesem Augenblick hebt sich der Stein von den anderen ab, und Olivier fotografiert ihn in seiner angestammten Umgebung. Aus der Tiefe der Erde, chthonisch, in Kälte erstarrt !
Dieser Blick verleiht ihm Grossartigkeit, weil er unmittelbar und vor allem ohne Voreingenommenheit und ohne a priori ist. Ich würde sagen, ohne intellektuelle Verdichtung. Schnell schon wird ihm dieser Stein vertraut. Er eignet sich ihn nach und nach an, und der Prozess der „Sakralisierung“ beginnt. Von einem einfachen mineralischen Objekt : Kalk, Granit, Schiefer, verwandelt er sich, seit er in seinem ursprünglichen Milieu entdeckt wurde, unmerklich in ein Kleinod von ungestalter Reinheit. Massiv und doch leicht, lichtundurchlässlich und zugleich durchscheinend, matt und gleichzeitig glänzend.
Er reinigt ihn häufig und wiegt ihn in seiner hohlen Hand oder in seiner Tasche. Er macht ihn sich zu eigen; macht sich mit ihm vertraut, webt ein seltsames und festes Band zwischen ihm und sich, als ob der Stein ihn durchwirken würde mit seinem Stein-Sein und er ihn mit seinem Fleisch und Blut und seiner eigenen Geschichte. Ein langer Prozess beginnt: er fängt an, ihn zu fotografieren, zu zeichnen, ihn wie eine Trophäe auszustellen. Der Stein, er, der in der absoluten Dunkelheit seiner zeitlosen Umgebung eingeschlossen war, wird Blickpunkt aller Augen. Aus seiner Unscheinbarkeit, in deutlichem Kontrast zu Diamanten und Edelsteinen, hat ihn der Künstler herausgeholt und so seine natürliche Herkunft künstlich noch stärker verherrlicht. Paradox…
Also überzeichnet er seine Ausmaße, verleiht ihm Leben, provoziert ihn auch! Der Stein wird zum Kunstobjekt. Seine ästhetischen Prädispositionen liegen offen zutage, seine Winkel, sein jeweiliger Schliff, seine Ecken und Kanten, seine überraschenden Farben, seine verborgenen und plötzlich zum Vorschein tretenden Formen offenbaren sich in einer Art emotional ‑brutaler Wahrheit, schmucklos, ohne Zusätze, ohne Arrangements.
Mir scheint, der Künstler erlebt ein unerwartetes Bedürfnis : das Bedürfnis nach einer Art von Tranzendenz, die sich aus zahlreichen, unterschiedlichen und unzertrennbar gewordenen Erscheinungsformen herleitet. Olivier Thillaye will mit seinen Zeichnungen, Fotografien und Ortsangaben nichts erklären: sie sind eine Wertschätzung, eine Art von Gedenken; eine unaufdringliche Form, ein unscheinbares steinernes Grabmal ins Licht zu setzen und so für unseren Blick frei zu legen. Kurz gesagt, sie sind keine Beigabe zum Verständnis, sondern sie laden uns ein, das zu sehen, was wir nicht gesehen hatten, was wir mit Füßen getreten, zur Seite geschoben, wegzuschaffen versucht hatten. Etwas, dem wir niemals Beachtung geschenkt hatten.
Seht, was ihr verpasst habt, Wanderer und Spaziergänger! Seht, wie Schönheit — naturbedingt verborgen — eben dort möglich ist, wo sie auftritt, wo sie unter euren Füßen liegt, hervorgegangen aus den Tiefen der Erde!
Das Werk wird dann zu einem Ganzen. Es besteht aus dem Stein selbst, seiner Fundstelle, seinem Foto und seiner Zeichnung. Stein ist von nun an Stein, weil Olivier Thillaye es so wollte! Weil der Stein es dulden ließ. Oder anders gesagt, weil er für einen Blick geschaffen war, der entschieden hatte, dass es so sein sollte. Sicherlich heute auch der eurige.
Man könnte sagen, Olivier Thillaye entdeckt den Stein, wie man einen Schatz entdeckt.
Text: Bruno Lavillatte